Perspektiven des Zerbruchs

Wir kennen sie alle: Situationen, in denen etwas schief läuft oder gar kaputt geht. Momente, in denen wir nicht die Reaktion und Bestätigung erhalten, die wir uns erhofft hatten. Phasen der Erschöpfung, des Zerbruchs und der Einsamkeit. Doch aus den Scherben unseres Lebens kann etwas Schönes und Wertvolles entstehen. Genau dies demonstriert Kintsugi, eine Töpferkunst aus Japan. Und wenn wir lernen die Geschichten hinter den Rissen unseres Gegenübers zu verstehen, eröffnen sich neue Perspektiven im Miteinander. Darum geht es in diesem Artikel.

 

Wenn man Kintsugi-Kunstobjekte das erste mal sieht, ist man als Westeuropäer meist irritiert. In unseren Breitengraden definiert eine perfekte Reparatur in der Regel eine Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes. Reparaturen sollten möglichst unsichtbar sein. Es soll so aussehen, als wäre nie etwas zu Bruch gegangen.

Bei Kintsugi ist das anders. Bei Kintsugi geht es darum, zu akzeptieren, dass Dinge, die nicht perfekt sind, gleichwohl ihre ganz eigene Schönheit haben können. Und diese liegt in der Hervorhebung des Zerbruchs. Der Betonung des Unperfekten. Sie liegt im Kontrast zwischen den schimmernden goldenen Linien und der offensichtlichen Versehrtheit der Keramik.

 

Was also ist Kintsugi?

Kintsugi ist eine japanische Kunstform, bei der Keramik- oder Porzellanbruchstücken mit Urushi-Lack und pulverisiertem Gold wieder zu einem Ganzen werden. Anstatt zerbrochene Vasen, Schalen oder Tellern einfach wegzuschmeißen, werden die Einzelteile hier in mühsamer Handarbeit zusammengefügt und die Risse besonders hervorgehoben.

Die liebevoll wiederhergestellten Kunstwerke demonstrieren eine Erkenntnis, die auch auf das reale Leben übertragbar ist: Aus den Scherben des Lebens kann etwas Schönes und Wertvolles entstehen. Und interessanterweise ist der Wert dessen oft viel größer als der ursprüngliche Zustand. Zerbruch sollte nicht das letzte Wort in unserem Leben haben. Mit Trauer und Enttäuschung gilt es weise umzugehen.

Wie gut, wenn man weiß, wo man Wiederherstellung erfahren kann. Wo man wieder aufgerichtet und getröstet wird. Wo man neue Perspektiven erhält und die Narben des Lebens vergoldet werden. Wohl dem, der oder die weiß, wo es diesen Ort gibt!

 

Eine bewegende Geschichte eines Mannes, dessen Kinder in der S-Bahn durchdrehten

Gleichzeitig handeln wir in Zeiten der Schwäche oft anders als in Zeiten der Stärke. Unsere Geduld und Kraft ist in Zeiten des Zerbruchs früher am Ende. Unsere Aufmerksamkeit verschwimmt in den Tränen unseres Schmerzes. Und das kann mitunter zu noch mehr Unverständnis und Zerbruch führen, wenn unser Umfeld nicht besonders wachsam ist.

Eine Geschichte, die mir hierzu einfällt, handelt von einem Mann, der mit seinen beiden Kindern S-Bahn fährt. Er selbst, vielleicht Mitte 30, hat in einem Vierer-Abteil Platz genommen und schaut ruhig, nachdenklich – ja fast schon teilnahmslos aus dem Fenster. Wenn seine Kinder sich ebenfalls ruhig verhalten würden, wäre dies für die weiteren Insassen prinzipiell in Ordnung.

Doch in diesem Fall ist genau das Gegenteil der Fall. Die 7jährige Tochter und der 9jährige Sohn drehen in der S-Bahn komplett auf. Sie sind laut, klettern über die Sitze und rennen den Gang auf und ab. Immer wieder. Sie ziehen die gesamte Aufmerksamkeit der S-Bahn auf sich. Doch der Vater bleibt regungslos sitzen. Sagt nichts. Scheint alles andere als aufmerksam zu sein. Er schaut weiter aus dem Fenster.

Erste Mitfahrer:innen fangen an die Köpfe zu schütteln und mit ihren Augen zu rollen. Erstes Getuschel beginnt: „Der hat ja seine Kinder gar nicht im Griff.“ – „Ja, so etwas hätte es früher nicht gegeben! Diese fehlende Erziehung wird uns auf kurz oder lang noch in den Ruin führen.“ Die nächsten sagen: „Unerhört, dem scheint ja alles egal zu sein. So ein assoziales Verhalten!“

Die Stimmung heizt sich immer mehr auf. Doch der Vater sitzt weiter regungslos da und macht nichts. Er schaut nur aus dem Fenster.

Schließlich geht es den Leuten zu weit. Die Kinder drehen immer mehr frei, so dass sich endlich jemand durchringt, den Vater anzusprechen. Es platzt aus ihm heraus: „Können Sie verdammt nochmal endlich ihre Kinder in den Griff bekommen. Die S-Bahn ist kein Spielplatz und wir hatten hier alle einen anstrengenden Tag!“

Nun realisiert der Vater die Situation. Er bittet den Mann leise um Entschuldigung. Mit tränenden Augen erklärt er sich: „Ich bitte um Entschuldigung. Ich stehe grad etwas neben mir. Wir kommen grad aus dem Krankenhaus. Die Mutter der beiden Kinder ist heute gestorben und vor mir türmt sich ein Berg an Fragen. Wie soll ich es den Kindern sagen? Wie soll es nun überhaupt weitergehen…?“

 

Was wir aus der Geschichte lernen können

Ich weiß nicht, wie es dir geht. Aber ich schätze, die Erkenntnis über den Todesfall der Ehefrau hat bei dieser Geschichte alles verändert, oder? Wo man zunächst Verständnis für den Ärger der Mitfahrer:innen hat, wendet sich das Blatt mit dem Wissen, was der Vater grad durchmachen muss. In welchem Kontext er sich befindet.

Meine Frage an dich: Steckt letztlich nicht hinter jedem Verhalten von dir und deinen Mitmenschen eine Geschichte? Trägt nicht jede:r von uns einen Rucksack an guten und schlechten Erlebnissen und Erfahrungen, der ihn oder sie prägt? Und hat dies nicht oft auch einen Einfluss auf unser Verhalten?

Und doch macht dies die Hyperaktivität und Lautstärke der Kinder und die Passivität als Erziehungsberechtigter nicht ungeschehen. Ja, ein Vater steht in Verantwortung für das Verhalten seiner Kinder und muss in dieser Situation einschreiten. Aber das Wissen um die Hintergründe des Vaters lässt die Situation doch in einem anderen Licht erscheinen. Der Zerbruch anderer lässt einen meist gnädiger werden. Sollte er zumindest.

Doch Verständnis füreinander entsteht nur, wenn man um die Hintergründe weiß. Wenn man das Gespräch sucht. Fragen stellt. In einer Haltung des gegenseitigen Respekts und ehrlichen Interesses. Wenn man miteinander, anstatt übereinander redet. Wenn man lernt, sich in die Lage des anderen hineinzuversetzen. Emphatisch ist.

Und auch wenn ich mir darüber im Klaren bin, dass mir das selbst nicht immer gelingt, will ich mich von dieser Geschichte inspirieren lassen. Lernen, nicht immer voreilig zu reagieren, wenn sich jemand atypisch verhält. Lernen, zuzuhören. Gnädiger zu sein. Denn meist hat alles seine Geschichte.

Oder um es mit der Sprache von Kintsugi zu sagen: Ich möchten lieber Urushi-Lack und Goldstaub sein anstatt Urheber neuer Scherben!

Wie ist es bei dir: Wie gehst du mit Zerbruch bei dir und anderen um? Welches Verhalten wünscht du dir von dir selbst als auch anderen? Was nimmst du aus diesem Artikel mit?

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